Volodymyr Chernov
Kurze
Geschichte des ukrainischen Kriegsgefangenen des Ersten Weltkriegs Iwan
Gregoriwitsch Sagrudny und seiner Nachkommen in Wetzlar.
Begegnung mit
seinen Nachkommen.
Erwartung neuer Begegnungen mit Nachkommen ukrainischer
Kriegsgefangener
aus dem Ersten Weltkrieg.
Iwan Sagrudny (Foto 1,2 )
In der
Samstagsveranstaltung
des Onlineperiodikums Kultur und Alltag vom 7. Januar 2017 in der
Stadtbibliothek Wetzlar, angekündigt von der Wetzlarer Neuen
Zeitung, deren Zweck es war, Nachkommen der ukrainischen
Kriegsgefangenen des Ersten Weltkriegs zu finden, war Hans Erich
Sagrudny, Sohn eines früheren Kriegsgefangenen, anwesend. Er
sprach über Erinnerungen sowie erhaltene Dokumente und Fotos,
die
von seinem in Wetzlar sesshaft gewordenen Vater zeugen. Die geplante
Zeit reichte nicht aus, so dass die Schilderungen am nächsten
Tag
fortgesetzt wurden. Sie übertrafen alle Erwartungen.
Iwan Sagrudny (Rechts, Foto 3)
Die
Art, wie sein Vater in
Wetzlar landete, kann man nur unter Zuhilfenahme der Geschichte der
Ukrainerlager in den Ländern der Mittelmächte
erklären.
Während des Ersten Weltkriegs gab es allein in Deutschland
drei
Lager des „Spezialprogramms“ der
Mittelmächte für
ethnische Ukrainer – in Wetzlar, Rastatt und Salzwedel. Das
Wetzlarer Lager stand an zweiter Stelle bezüglich der
Gefangenenanzahl, in Rastatt war das größte Lager
(bis
20.000 Gefangene) und in Salzwedel das kleinste. In den Lagern
veröffentlichten die Gefangenen selbst und ihre Berater
(Ukrainer
aus Österreich-Ungarn) Zeitungen, die in allen drei Lagern
erhältlich waren, unabhängig vom Entstehungsort. Im
staatlichen Archiv von Wetzlar sind Zeitungen aus dem Wetzlarer Lager
jener Zeit zu finden: „Gromadska Dumka“
(übersetzt
Öffentliche Meinung), „Proswetitelskij
Listok“
(übersetzt Aufklärungsblatt). In Rastatt wurde
„Rozswit“
(„Morgendämmerung“) gedruckt, in
Salzwedel - „Wilne Slowo“ („Freies
Wort“). Auf
diese Weise waren die Gefangenen gut darüber informiert, was
in
viele Kilometer entfernten Lagern vor sich ging. Amateurmusiker und
-schauspieler tauschten sich über ihre Konzertreisen und
Gastspiele aus, Gefangene schrieben sich gegenseitig. Dieser
Informationsaustausch scheint dazu geführt zu haben, dass der
Vater von Hans Erich Sagrudny Wetzlarer Bürger
wurde...
Foto mit einer Gruppe
von Kriegsgefangenen und Bewachern, vermutlich im spezialisierten Lager
für ukrainische Kriegsgefangene in Rastatt. Iwan Sagrudny ist der sechste von rechts. (Foto 4)
Iwan Sagrudny (Foto 5)
Iwan Sagrudny (Foto 6, dritter von rechts)
Iwan Sagrudny (Foto 7)
Hans' Vater,
Iwan, wurde am
13.09.1896 im kleinen ukrainischen Dorf Werchnij Rogatschik geboren und
vebrachte den späteren und größeren Teil
seines Lebens
in Wetzlar. Interniert war er allerdings vermutlich nicht in Wetzlar,
sondern in Rastatt oder einem nichtspezialisierten Lager in Bayern.
Leider gibt es keine direkten Hinweise auf den genauen Standort seines
Lagers. Auf einem der wenigen Lagerfotos, das ihn mit anderen
Kriegsgefangenen und Bewachern abbildet, gibt es ein Fragment eines
Gebäudes, anhand dessen – mit etwas Glück
im Archiv
– dieser Standort bestimmt werden kann. Auf einem
anderen
Foto, vermutlich aus dem Jahr 1918 und noch in Kriegsgefangenschaft,
sehen wir ihn mit drei Kameraden (er steht links), von denen einer
gleichzeitig seiт Bewacher ist, möglicherweise ein Ukrainer
aus
Österreich-Ungarn... Man kann vermuten, dass in Speziallagern,
die
zur Rekrutierung von Ukrainern als Verbündeten in
künftigen
Kriegen dienen sollten, solche Freundschaften keine Ausnahme waren.
Kleines Gruppenfoto mit zwei
unbekannten Kriegsgefangenen,
Iwan Gregoriwitsch
Sagrudny (links) sowie einem unbekannten Bewacher.
Vermutlich 1918. (Foto 8)
Foto 9
Foto 10
Nach der Entlassung aus dem Lager beschloss er, wie ein Teil der
damaligen Kriegsgefangenen, sein weiteres Schicksal mit Deutschland zu
verbinden. Er fand beim Friseurmeister Pflüger in
Nürnberg eine
Anstellung als Friseur. Im handschriftlichen Zeugnis vom 7. August 1919
steht: "... Iwan Sagrudni (...) als freier Arbeiter
in
meinem Geschäfte tätig war. S.(Sagrudny)
hat sich
während dieser Zeit durch Treue, grösste
Ehrlichkeit ,
Fleiss und Anhänglichkeit meine vollste
Zufriedenkeit
erworben, desgleichen auch meine Kundschaft
zufriedengestellt."
Zeugnis für Iwan
Sagrudny, ausgestell am 7. August 1919 von Hans Pflüger, mit
der Angabe der Aufenthaltsdauer im Kriegsgefangenenlager. Foto 11.
Foto 12.
Frau Mina Groh, später Frau Sagrudny (Foto 13).
Schura (Schwester von Herr Sagrudny) mit Ehemann (Foto 14)
Aufgrund der Entscheidung Bayerns, alle
Ausländer
auszuweisen, kam Hans' Vater Iwan Gregoriwitsch Sagrudny nach Wetzlar
und fand beim Friseurmeister Scherer eine Anstellung. Dieser Umzug aus
der Nähe eines Lagers in die Nähe eines anderen
erscheint
nicht zufällig. Hier scheint der Informationsaustausch
zwischen
den ehemaligen Kriegsgefangenen des Lagers eine Rolle
gespielt zu
haben.
Hochzeitfoto 28 Juni 1924 (Foto 15)
(Foto 16)
(Foto 17)
(Foto 18)
Dazu gehörten anscheinend auch gegenseitige Tipps,
wie man
in seinem Beruf arbeiten könne. Die in Deutschland
verbliebenen Ukrainer wussten mit Sicherheit gut, wo ihre Arbeitskraft
benötigt wurde, denn im Lager bekamen sie für
verschiedene
Arbeiten lediglich täglich 50 Pfennig . Man könnte
vermuten,
dass die in Deutschland gebliebenen ukrainischen Kriegsgefangenen die
gleichen Arbeitsplätze besetzten, die sie im Prinzip schon
früher hatten und die ihnen als Personen mit entsprechendem
Ruf
und Erfahrung nach Entlassung aus dem Lager angeboten wurden.
Österreich-Ungarn behinderte sogar aufgrund des
Arbeitskräftemangels nach dem Krieg die Repatriierung der
ukrainischen Kriegsgefangenen.
Friseurgeschäft in Leun (Foto 19)
Die
Kriegsgefangenen aus dem Wetzlarer Lager, deren Zahl etwa derjenigen
der Stadt selbst entsprach, konnten nicht ausschließlich in
der Stadt selbst beschäftigt werden.
Friseurgeschäft in Leun (Foto 20)
Am 28.11.1924 heiratete Iwan Gregoriwitsch Sagrudny Mina Katarina, geb.
Groh. Beide gingen in die Ukraine. Bedingt
durch die damals unsichere politische Lage, kehrten sie schon
nach einem Jahr aus der ukrainischen Stadt Nikopol
in der seine nahen Verwandten, seine Schwester Schura, Bruder
Ljonia, sowie die befreundete deutsche Familie Siemens lebten nach
Deutschland zurück.
März 1929 (Foto 21)
Iwan Sagrudnys Rückkehr nach Deutschland
bedeutete jedoch keinen Abbruch der Kontakte zu seiner Schwester.
Damals war er möglich, wenn auch aufgrund
„historischer Umstände“ wohl nicht ohne
Unterbrechungen und Störungen.
Mina Sagrudny mit Vermieterssohn , Domplatz 13, Wetzlar (Foto 22)
So schreibt die
Schwester etwa im „politisch korrekten“ Brief vom
01.10.1935, der an der Zensur vorbei kommen sollte, dass die Ernte im
Jahr 1933 (ausgerechnet dem Jahr der künstlichen Hungersnot in
der Ukraine und in Kasachstan) wunderbar war und mit Brot alles in
bester Ordnung ist. Im Schluss dieses Briefes bittet sie ihn, ihr
über Torgsin, die sowjetische Organisation für Handel
mit Gold, Silber und Fremdwährungen, Geld zu
übergeben. (Dieses Geld sollte ihr helfen, Lebensmittel zu
kaufen.)
Familie
Sagrudny auf einem Foto von 1931.
Das Foto wurde vom Hoffotograf
Max Spalke gemacht. (Foto 23)
Der letzte Brief
von seiner Schwester stammt aus de Jahr 1943, als die Ukraine vom
Dritten Reich besetzt wurde, danach verlieren sich ihre Spuren. Die
Spuren seines Bruders Ljonja verlieren sich noch früher, Mitte
der 1930er Jahre, irgendwo in der Region Chabarowsk im fernen Osten
Russlands...
Friseurgeschäft in Wetzlar, Domplatz 13, im Kostüm Sohn Hans.
(Foto 24)
Am 25.10.1928 wird ihr Sohn
Hans Erich geboren. Die ganze Familie ist auf einem Foto von 1931 zu
sehen. Das Foto wurde vom Wetzlarer Hoffotografen Max Spalke
gemacht. Iwan Sagrudny eröffnete zunächst
in Leun ein Friseutgeschäft,daß er später
nach Wetzlar am Domplatz verlegte.
Foto des Friseursalons am
Domplatz. Vermutlich 1935. (Foto 25)
Auf einem
späteren, undatierten Foto sieht man ihn im Friseursalon mit
einem Fotografen, der ihr gemeinsames Spiegelbild fotografiert.
1940 erwarb Iwan Sagrudny das Haus Goethestrasse 3 in Wetzlar. In
diesem Haus führte er das Geschäft weiter .
1948 starb Iwan Sagrdny mit 52 Jahren. Sein Sohn
Hans studierte nach dem Abitur Pharmazie und war in der
Pharmaindustrie und später als Apotheken-Pächter in Leun
tätig. Seine Frau Heid (geb. Wenzel) betrieb mit ihrem Vater
von 1953 bis 1984 ein Fotogeschäft in der
Hausertorstraße in Wetzlar...
VSTAVKA Apotheke in Leun ab 1978 (Foto 26)
Iwan Sagrudny mit Mitarbeiter in Herrensalon 1938 (Foto 27)
So ist „kurz“ die Geschichte einer Wetzlarer
Familie, die von einem kriegsgefangenen Ukrainer abstammt, einem
Ukrainer, der in der russischen Armee kämpfte und nach dem
Ersten Weltkrieg eine neue Heimat in Wetzlar gefunden hatte.
Iwan Sagrudny (Foto 28)
Ich, Volodymyr Chernov, möchte der Familie Hans und Heid
Sagrudny für die zur Verfügung gestellten
Informationen danken.
Foto von Iwan Sagrudni in
seinem Friseursalon am Domplatz mit einem Fotografen. Vermutlich 1939, 1940.
(Foto 29)
Geschäft in der Goethestrasse 3, Wetzlar. (Kind rechts: späterer Fotograf Scharfscheer)
(Foto 30)
Geschäft in der Goethestrasse 3, Wetzlar.
(Foto 31)
Geschäft in der Goethestrasse 3, Wetzlar.
(Foto 32)
Geschäft in der Goethestrasse 3, Wetzlar.
(Foto 33)
Goethestrasse 3, 1941
(Foto 34)
Foto Wenzel, Hausergasse 27
(Foto 35)
Foto Wenzel, Hausergasse 27
(Foto 36)
(Foto 37)
Treffen in der Stadtbibliothek
Wetzlar am 7.01.2017. Von links nach rechts: Heid Sagrudny, Katya
Schliefer, Hans Erich Sagrudny, Ihor Penjuk (ältester Ukrainer
in Wetzlar).
(Foto 38)
Kriegsgefahngene, Foto aus der Sammlung Familie Sagrudny.
(Foto 39)
(Foto 40)
Ich, Volodymyr Chernov,
und das Onlineperiodikum Kultur und Alltag, wir sind nach wie vor auf
der Suche nach Zeugnissen über und von in Deutschland
gebliebenen, im Ersten Weltkrieg gefangen genommenen Ukrainern und
deren Nachkommen im Rahmen des zweiteiligen Projekts der komplexen
Wiederherstellung und Restaurierung des Wetzlarer Teils des Gedenk- und
Begräbniskomplexes für die verstorbenen ukrainischen
Kriegsgefangenen des Ersten Weltkriegs Rastatt-Wetzlar.
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Zweiteiligen Projekt
der komplexen Wiederherstellung und Restaurierung
des Wetzlarer Teils des Gedenk- und Begräbniskomplexes
für die verstorbenen ukrainischen Kriegsgefangenen
des Ersten Weltkriegs Rastatt-Wetzlar
Einführung, Artikel
„NICHT AUSGELÖSCHT, SONDERN IM LICHT.“
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